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©Atomic Sparcle/iStock

Auf der sicheren Seite

Arzneimittel können für Schwangere ein Segen sein. Manchmal sind sie ein Fluch.

Seit den 1960er Jahren ist im öffentliche Bewusstsein tief verankert, dass Arzneimittel in der Schwangerschaft großen Schaden anrichten können. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan® (Thalidomid) hatte damals die Entwicklung von Gliedmaßen und inneren Organen vieler Kinder massiv geschädigt (GPSP 2/2006, S. 6). Heute werden solche Risiken vor der Zulassung in Tierstudien untersucht. Danach wird durch gezielte Beobachtung von Schwangerschaften verfolgt, ob sich Medikamente auf das Ungeborene ausgewirkt haben. Wir fragten die Ärztin Corinna Weber-Schoendorfer nach den guten und schlechten Seiten von Arzneimitteln in der Schwangerschaft.

GPSP: Schwangere wissen, dass sie auf Arzneimittel möglichst verzichten sollten. Aber etwa jede zweite Schwangerschaft entsteht ungeplant. Müssen Frauen sich Sorgen machen, wenn sie zum Beispiel kurz vor dem Eisprung zwei-, dreimal ein Schmerzmittel genommen haben?

Corinna Weber-Schoendorfer: In der Regel nicht. Wenn das so früh passiert, fällt es in die so genannte Alles-oder-Nichts-Phase zwischen Empfängnis und Ausbleiben der Regelblutung. Das sind die ersten 14 Tage des neuen Lebens.1 So früh kommt es nicht zu Fehlbildungen, denn die Zellen sind noch pluripotent, das heißt sie können noch alles. Kleinere Defekte werden repariert, größere führen zu einem frühzeitigen Ende der Schwangerschaft. Das wirkt sich dann so aus, dass die Regelblutung ein bis zwei Tage später kommt.

GPSP: Gilt das Alles-oder-Nichts-Gesetz absolut?

Weber-Schoendorfer: Bei Medikamenten mit sehr langer Halbwertzeit können nach der Empfängnis noch problematische Wirkstoffspiegel bestehen, selbst wenn das Mittel bereits abgesetzt wurde. Ein Beispiel dafür ist Isotretinoin, das jungen Frauen gegen schwere Akne verordnet wird. Solche Arzneistoffe aus der Gruppe der Retinoide wirken als Tablette eingenommen relativ lange nach.

GPSP: Zum falschen Zeitpunkt eingenommen kann sogar eine einzelne Tablette, die gar nicht so lange wirkt, verheerende Folgen haben – wie bei Contergan®

Weber-Schoendorfer: Ja. Allerdings ist es das einzige Medikament, das Konsequenzen in diesem Ausmaß hatte. Mit derart schweren Fehlbildungen der Organe und Gliedmaßen ist jedoch nur in einer bestimmten Schwangerschaftsphase zu rechnen, nämlich wenn diese sich ausbilden.

GPSP: Warum belasten Arzneimittel, die eine Schwangere einnimmt, überhaupt das Ungeborene? Ist es nicht vor Schäden geschützt?

Weber-Schoendorfer: Dieses Denken ist überholt. Wir wissen heute, dass viele verschiedene Stoffe vom mütterlichen Blutkreislauf über die Plazenta auf das Ungeborene übergehen können. Zwischen der Einnistung des Eis und bis zur 11. Woche nach der letzten Regel haben wir es mit der sensibelsten Zeit zu tun. Denn in diesem ersten Schwangerschaftsdrittel, entstehen die Organe und Gewebe des Kindes – und zwar immer gleich und nach festem Zeitplan.

GPSP: Kann denn das Ungeborene Arzneistoffe, die über die Plazenta angeliefert werden, verstoffwechseln? Können die Nieren sie ausscheiden?

Weber-Schoendorfer: Das ist nur bedingt möglich, denn die Organe sind in ihrer Funktion anfangs sehr eingeschränkt. Ich muss auch daran erinnern, dass wir insgesamt noch sehr wenig über die genauen Schädigungsmechanismen auf molekularer Ebene wissen. Aber wir wissen, dass Arzneimittel im 2. und 3. Drittel der Schwangerschaft nicht mehr zu Fehlbildungen führen, da der Körper und die inneren Organe ausgebildet sind. Allerdings kann es unter anderem zu Reifungs- und Funktionsstörungen kommen, und zwar nicht nur durch Arzneistoffe, sondern viel häufiger durch Alkohol. Der schädigt vor allem die Entwicklung des Gehirns – und zwar während der gesamten Schwangerschaft.

GPSP: Und welche Arzneistoffe können Funktionsstörungen auslösen?

Weber-Schoendorfer: Unter anderem Bluthochdruckmedikamente wie ACE-Hemmer und die so genannten Sartane wie Valsartan. Diese stören vor allem die Entwicklung der Niere, sodass der Fötus weniger Fruchtwasser produziert. Und dadurch können außer den Nieren beispielsweise auch Gelenke oder Lungen Schaden nehmen.

GPSP: Wozu raten Sie einer Schwangeren, die bislang mit einem ACE-Hemmer behandelt wurde?

Weber-Schoendorfer: Da besteht nach heutigem Wissens keine Gefahr für eine teratogene Schädigung. Dennoch sollte die Ärztin oder der Arzt diese Patientin zügig auf ein anderes Medikament umstellen. Das ist vor und während der Schwangerschaft möglich.

GPSP: Und welche Arzneimittel kommen da als Alternative in Frage?

Weber-Schoendorfer: Betablocker wie zum Beispiel Metoprolol und daneben auch Methyldopa, ein altbekanntes umfassend untersuchtes Mittel, das sich in der Schwangerschaft deshalb gut eignet, weil man hier andere Ziele verfolgt als sonst.

GPSP: Worauf spielen Sie an?

Weber-Schoendorfer: Normalerweise sind die Behandlungsziele in und außerhalb der Schwangerschaft gleich. Bei Rheuma geht es beispielsweise immer darum, Schmerzen zu lindern, die Zerstörung der Gelenke aufzuhalten und ganz allgemein Entzündungsprozesse herunter zu fahren. Aber bei Bluthochdruck ist das anders: Außerhalb der Schwangerschaft sollen Arzneimittel vorrangig Spätfolgen von hohem Blutdruck wie etwa Schlaganfall abwenden. In der Schwangerschaft geht es primär um einen ungestörten Verlauf der Schwangerschaft.

GPSP: Was kann passieren, wenn hoher Blutdruck nicht behandelt wird?

Weber-Schoendorfer: Die Durchblutung der Plazenta kann schlechter werden, und es kann noch eine Schwangerschaftsvergiftung hinzukommen, die so genannte Präeklampsie. Das kann zu einer Frühgeburt, zur Mangelentwicklung des Föten und bei der Mutter manchmal sogar zu einem Krampfanfall führen. Das Leben von Mutter und Kind kann gefährdet sein.

GPSP: Es kommt also darauf an, die richtigen Arzneimittel zu verordnen. Bei welcher anderen Erkrankung Profitieren denn ebenfalls sowohl die angehende Mutter als auch das ungeborene Kind von der richtigen Arzneitherapie?

Weber-Schoendorfer: Bei Diabetes Typ 1 gibt es kein großes Problem, nur die Insulin­dosis muss angepasst werden. Frauen mit Diabetes Typ 2 oder einem Schwangerschaftsdiabetes brauchen natürlich auch eine Therapie. Wir können heute den Blutzuckerspiegel von Diabetikerinnen gut einstellen, auch in der Schwangerschaft. Das ist wichtig, denn je höher der Blutzucker, desto höher ist das Risiko für Fehlbildungen. Und auch wenn die sensible Phase für teratogene Schäden vorbei ist, darf der Blutzucker nicht in die Höhe schnellen, sonst entwickelt sich ein übergewichtiges Baby, dem eine spätere Diabeteserkrankung gewissermaßen in die Wiege gelegt ist.

GPSP: Weil man ihren Blutzucker auch in der Schwangerschaft gut einstellen kann, müssen Diabetikerinnen heute also keinesfalls auf Kinder verzichten?

Weber-Schoendorfer: Genau. Es gibt so gut wie keine Krankheit, die nicht auch in der Schwangerschaft behandelt werden kann.

GPSP: Aber?

Weber-Schoendorfer: Ja, es gibt ein Aber. Auf die Frage, ob Schwangere ein Medikament problemlos einnehmen können – ohne darüber nachzudenken –, ist meine Antwort natürlich „nein“. Beratung ist wesentlich. Und im Fall einer Erkrankung müssen wir herausfinden, welche Arzneistoffe zur Verfügung stehen und welches Risikopotenzial diese haben. In Absprache mit dem behandelnden Facharzt wird dann nach der bestmöglichen Therapie gesucht.

GPSP: Warum lässt sich nicht bereits aus dem Beipackzettel oder der Fachinformation für Ärzte entnehmen, wie sicher ein Medikament in der Schwangerschaft ist?

Weber-Schoendorfer: Weil es immer um eine schwierige und individuelle Nutzen-Risiko-Abschätzung geht: Wie schwer ist die Frau erkrankt? Wie hoch ist der Leidensdruck? Welche Medikamente nimmt sie ein und wie lange schon? All‘ das kommt in der Beratung – auch mit dem jeweiligen Facharzt – zur Sprache. Beipackzettel und Fachinformationen sind jedoch auch darum nicht so hilfreich, weil sie die aktuelle Studienlage nicht zeitnah berücksichtigen können und weil sie das Risiko eines Arzneistoffs nicht quantifizieren, also nicht sagen, wie hoch es ist. Die US-Gesundheitsbehörde FDA will die Risikokommunikation noch in diesem Jahr verbessern und die europäische EMA arbeitet ebenfalls daran. Aber das kann dauern.

GPSP: Sicher wird individuelle Beratung nicht überflüssig. Ich denke da insbesondere an Schwangere mit einer psychischen Erkrankung.

Weber-Schoendorfer: Tatsächlich betrifft ein Viertel unserer Anfragen das Thema Psychopharmaka. Meistens leiden die Frauen an einer Depression. Wenn diese medikamentös behandelt werden muss, dann sollte man das in der Schwangerschaft fortsetzen. Wichtig ist die psychische Stabilität.

GPSP: Gibt es hinsichtlich der Risiken eigentlich Unterschiede zwischen den Antidepressiva?

Weber-Schoendorfer: Unterschiede betreffen vor allem unseren Kenntnisstand. So sind etwa SSRI-Präparate und auch Trizyklika besonders gut untersucht. Hinsichtlich der Risiken unterscheiden sich die Medikamente nicht so stark. Wenn ein bestimmtes Antidepressivum einer Patientin gut hilft, ist während der Schwangerschaft eine Umstellung auf ein anderes Präparat in der Regel nicht ratsam.

GPSP: Sind denn Fehlbildungen durch Psychopharmaka zu befürchten?

Weber-Schoendorfer: Soweit wir wissen, bergen Antidepressiva oder Neuroleptika kein teratogenes Potenzial. Aber die Frauen sollten immer stationär entbinden, und die Klinik sollte eine Neugeborenenintensivstation haben, falls es Probleme gibt. Manchmal sind die Babys in den ersten Tagen zittrig, muskulär sehr angespannt, und sehr selten neigen sie zu Krämpfen. Manche sind hingegen außergewöhnlich schläfrig.

GPSP: Wir haben bisher nur über Frauen gesprochen. Kann auch die Arzneitherapie von angehenden Vätern ein Risiko für Nachkommen bedeuten?

Weber-Schoendorfer: Grundsätzlich schon, wenn Samenzellen dadurch geschädigt werden. Wir beschäftigen uns schon lange mit dieser Frage. Kürzlich konnten wir Methotrexat, das bei schweren rheumatischen Erkrankungen verordnet wird, entlasten. Die Auswertung von über 100 Schwangerschaften, bei denen die Väter um die Empfängnis herum das Mittel in der üblichen niedrigen Dosis eingenommen hatten, ergab keine Auffälligkeiten.2

GPSP: Das ist zum Schluss nochmals eine gute Nachricht. Frau Weber-Schoendorfer, vielen Dank, dass Sie sich für unsere Fragen Zeit genommen haben.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 03/2015 / S.19