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Lebensqualität bis zuletzt

Die Palliativmedizin und das „gute Sterben“

Selbst wenn keine Heilung mehr möglich ist, können Ärzte dennoch etwas für ihre Patienten und Patientinnen tun. Welche Möglichkeiten bietet die Medizin bei lebensbegrenzenden Erkrankungen? Und was müssen wir über das Sterben wissen? Dazu haben wir den Palliativmediziner Sven Gottschling befragt.

GPSP: Palliativmediziner wie Sie betreuen Patienten, für deren Krankheit es keine Heilung gibt und deren Lebensende absehbar ist. Sie beschreiben sich selbst als „Facharzt für Lebensqualität“. Ist das nicht paradox?

Sven Gottschling: Das klingt nur im ersten Moment paradox. Aber gerade bei einer lebensbegrenzenden Erkrankung zählen die guten Momente: Wir Palliativmediziner lindern zum Beispiel Schmerzen und Luftnot, so dass der Betroffene noch Gelegenheit hat, mit Menschen in Kontakt zu treten, Wichtiges zu regeln und schöne Situationen mit der Familie zu erleben. Es geht um das Leben, und was da noch möglich ist. Das ist sehr lebensbejahend, und unser Hauptfokus dabei ist Lebensqualität.

Richtet sich Palliativmedizin nur an Todkranke am Lebensende?

Wir möchten die Patienten nicht erst in den letzten Tagen oder Wochen kennenlernen, sondern schon viel früher: im Idealfall, sobald die schwere Erkrankung diagnostiziert wird. Dann kann die Begleitung unter Umständen auch über Jahre oder gerade bei Kindern auch über Jahrzehnte gehen.

Warum plädieren Sie dafür, sich mit dem Sterben zu beschäftigen?

Ich finde es wichtig, dass man zumindest die Möglichkeit hat, sich damit auseinanderzusetzen. Dazu muss man informiert sein, und vonseiten der Ärzte gehört auch ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit dazu. Wir können einem Todkranken nicht auf die Schulter klopfen und immer noch eine weitere Therapie aus der Trickkiste ziehen. Manchmal kann man nur noch sagen: Eine weitere gegen Ihre Krankheit gerichtete Therapie ist nicht mehr sinnvoll. Das gibt dem Menschen die Möglichkeit, in einen Trauerprozess einzutreten, Abschied zu nehmen und Dinge zu regeln. Der Patient muss wissen, dass die Zeit jetzt knapp wird.

Wie erklären Sie, auf was man sich beim Sterben einstellen muss?

Das ist sehr individuell. Es gibt Menschen, die sehr beschwerdearm, teilweise auch im Schlaf sterben. Und es gibt Menschen, die kämpfen und viele Probleme haben. Wir fragen unsere Patienten zum Beispiel nach ihren Ängsten. Die meisten können die ganz klar benennen: Ich habe Angst vor Schmerzen oder Luftnot. Ich habe Angst davor, hilfebedürftig zu sein oder meine geistigen Fähigkeiten zu verlieren, sodass ich meine Angehörigen nicht mehr erkenne.

Ganz viele Ängste können wir ihnen nehmen: Wir haben hochwirksame Schmerzmedikamente, bei denen wir die Dosis ohne Obergrenze weiter steigern können. Bei wenigstens 9 von 10 Patienten können wir nach meiner Erfahrung Schmerzen so wirksam lindern, dass es absolut erträglich wird. Und in den ganz wenigen Fällen, wo uns das nicht gelingt, haben wir die Möglichkeit, die Patienten mit Medikamenten abzuschirmen. Das zu wissen, ist für viele ungemein beruhigend.

Was bedeutet „Abschirmen“?

Bei der sogenannten palliativen Sedierung setzen wir Beruhigungsmittel und starke Schmerzmittel ein. Die wirken beide auch angstlindernd. Stufenweise können wir die Medikamente so dosieren, dass je nach Wunsch eine leichte Beruhigung eintritt, bei der ein Patient seine Umgebung noch wahrnimmt, bis hin zu einem künstlichen Koma, etwa wenn die Lungen nicht mehr funktionieren und massive Atemnot auftritt. Das Ziel ist nicht, das Leben zu verkürzen. Diese Patienten leben teilweise sogar länger, weil man ihnen den Stress nimmt. Wir setzen die palliative Sedierung ein, wenn wir die Beschwerden mit anderen Mitteln nicht in den Griff bekommen.

Und woran erkennen Angehörige den beginnenden Sterbeprozess?

Oft merken sie ganz genau, dass sich ein Mensch verändert, wie seine Lebensbatterie immer leerer wird. Sterbende bewegen sich weniger, Hände und Füße werden kalt, die Haut erscheint marmoriert. Auch verändert sich das Bewusstsein, das Schlafbedürfnis nimmt zu, manchmal sind die Patienten ein bisschen verwirrt. Wir erleben es aber auch, dass Menschen kurz vor dem Sterben noch mal ihre letzten Kraftreserven mobilisieren, dass sie nochmal viel fitter, wacher und klarer sind.

Was müssen Angehörige über Essen und Trinken am Lebensende wissen?

Viele haben Angst davor, dass ihr sterbender Angehöriger verhungern oder verdursten könnte. Man muss aber ganz klar sagen: Sterbende haben keinen Hunger mehr, und irgendwann versiegt auch das Durstgefühl. Wenn sie nicht essen oder trinken, leiden sie also nicht. Da besteht für uns kein Handlungsbedarf. Es ist sogar genau umgekehrt: Wenn ich bei einem Menschen mit nachlassenden Organfunktionen am Lebensende reichlich Nahrung oder Flüssigkeit zuführe, kann der Körper damit gar nicht mehr umgehen. Das Wasser wird über die Niere nicht mehr ausgeschieden, es lagert sich im Körper, häufig in den Lungen ab. Dann bekommen die Menschen Luftnot. Durstgefühl wird bei Sterbenden auch nicht durch Flüssigkeitsmangel im Körper ausgelöst, sondern durch Mundtrockenheit. Dann ist eine gute Mundpflege wichtig. Zum Beispiel können Angehörige mit einem kleinen Sprühfläschchen alle halbe Stunde die Mundschleimhaut mit dem Lieblingsgetränk anfeuchten.

,,Menschen sterben nicht, weil sie nicht mehr essen und trinken. Sondern sie essen und trinken nicht mehr, weil sie sterben.“

Also brauchen Menschen im Sterbe­prozess keine künstliche Ernährung?

Stimmt. Künstliche Ernährung durch eine Sonde in den Magen oder Darm wird häufig schlecht vertragen. Es kommt zu Durchfall, Bauchkrämpfen und Übelkeit. Wenn jemand wegen Übelkeit die Sondennahrung erbricht und das Erbrochene in die Lunge einatmet, bekommt er eine Lungenentzündung und Luftnot. Menschen sterben nicht, weil sie nicht mehr essen und trinken. Sondern sie essen und trinken nicht mehr, weil sie sterben.

Was ändert sich noch am Lebensende?

Beim Sterben verändert sich das Atemmuster: Es kommt immer mal wieder zu kurzen Atempausen. Die Atmung wird rasselnd, weil Menschen irgendwann nicht mehr die Kraft haben, den Schleim in den Atemwegen abzuhusten. Für Angehörige sieht das wie Luftnot aus, für den Sterbenden ist das aber gar nicht mehr spürbar. Selbst nach dem Stillstand von Atmung und Kreislauf können noch einzelne tiefe, seufzende Atemzüge auftreten. Das sind die letzten Funksignale aus dem Stammhirn. Die Funktionen des Großhirns sind dann aber schon erloschen, der Mensch ist gar nicht mehr da.

Lässt sich die verbleibende Lebenserwartung vorhersagen?

Wir Ärzte sind bei solchen Prognosen extrem schlecht. Menschen entscheiden ein Stück weit selbst, wann sie sterben. Ich habe Patienten mit Blutwerten erlebt, die mit Leben eigentlich nicht vereinbar sind. Die haben noch drei Wochen gelebt, weil sie auf die Geburt des Enkelkindes gewartet haben. Wenn wir aber das Gefühl haben, dass einige Körperfunktionen deutlich nachlassen, raten wir Angehörigen, da zu bleiben. Oder wenn Patienten weit in die Zukunft hinein planen, weisen wir darauf hin, dass dies nach unserer Erfahrung unrealistisch ist und zu Erledigendes nicht mehr aufgeschoben werden sollte.

Was raten Sie Familien mit Kindern, wie sie mit dem Sterben eines Angehörigen umgehen sollten?

Ich finde es total wichtig, mit den Kindern offen und ehrlich zu reden. Nehmen Sie Kinder mit zu schwerstkranken und sterbenden Menschen und erklären Sie ihnen in einer verständlichen Sprache, was los ist. Kein Kind ist zu klein, um sich von einem sterbenden Menschen zu verabschieden oder einen toten Menschen zu sehen oder zu berühren. Damit machen wir immer wieder gute Erfahrungen.

Wie unterscheidet sich die Versorgung auf einer Palliativstation und in einem Hospiz?

Eine Palliativstation ist die Akutstation eines Krankenhauses und zuständig, wenn bei Menschen mit lebensbegrenzenden Erkrankungen schwerwiegende Symptome auftreten. Wir versuchen ihre Beschwerden so weit in den Griff zu bekommen, dass eine Weiterversorgung möglich wird – zu Hause oder in einem Hospiz. Trotzdem kommen viele Menschen so stark angeschlagen auf die Palliativstation, dass etwa die Hälfte dort stirbt. Ein Hospiz ist eine stationäre Pflegeeinrichtung. Das Pflegepersonal ist gut geschult, und der Personalschlüssel ist wesentlich besser als etwa in einem Pflegeheim. Die ärztliche Versorgung übernehmen meist Hausärzte mit einer speziellen Qualifizierung, die auch im Bereitschaftsdienst zur Verfügung stehen.

Kann man sich auch zu Hause palliativmedizinisch betreuen lassen?

Dafür gibt es je nach Region die allgemeine ambulante Palliativversorgung (AAPV) durch den Hausarzt oder Palliativ-Konsiliardienste oder Teams der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV). Sie kommen je nach Bedarf einmal täglich oder alle zwei bis drei Tage. Sie haben auch eine 24-Stunden-Rufbereitschaft, so dass Angehörige sie jederzeit rufen können. Wenn es ein stabiles soziales Netz gibt und Angehörige sich kümmern, ist die Versorgung zu Hause eine gute Möglichkeit. Kein Mensch ist zu krank, um zu Hause sterben zu können. Auch eine palliative Sedierung ist zu Hause machbar. Es gibt einen Notfallplan und es liegen Medikamente bereit, so dass Angehörige wissen, in welcher Situation sie welches Arzneimittel geben können. Das SAPV-Team berät die Angehörigen und leitet sie auch beispielsweise bei der Gabe von Schmerzmitteln an.

Wie gut ist die Palliativversorgung in Deutschland etabliert?

Theoretisch könnten wir eine gute Versorgung überall anbieten. Allerdings sind die Strukturen immer noch nicht in einem solchen Maß ausgebaut, dass man wirklich jeden Menschen erreicht. Wir haben erhebliche Defizite in Einrichtungen der Altenpflege, in vielen Krankenhäusern wird immer noch sehr unwürdig gestorben, nicht hinreichend begleitet und die Symptome nicht ausreichend gelindert. Es gibt noch viele Regionen in Deutschland, in denen die ambulante Palliativversorgung nicht flächendeckend etabliert ist, obwohl wir seit zehn Jahren ein Gesetz dazu haben.

Woran liegt das?

Palliativversorgung ist ein Minusgeschäft. Deshalb tun sich Krankenhausbetreiber und andere Leistungserbringer schwer, diese Strukturen mit Schwung auszubauen. Derzeit werden in unserem Gesundheitssystem technische Leistungen sehr gut, personalintensive Leistungen wie Gespräche aber sehr schlecht vergütet. Das muss sich ändern, gerade weil beschwerliches Sterben nicht nur den Patienten selbst belastet, sondern auch seine Angehörigen. Und das kann dann enorme gesellschaftliche Folgekosten nach sich ziehen, etwa wenn Angehörige danach eine Psychotherapie brauchen oder lange am Arbeitsplatz fehlen.

Wirkt sich eine gute Palliativversorgung auf die Debatte um Sterbehilfe aus?

Ja, ungemein. Wir erleben es im Alltag, dass wir Menschen helfen und Familien stützen können. Eine wirksame Palliativversorgung ist nach meiner Überzeugung die beste Antwort auf den Wunsch nach Sterbehilfe. Dieser Wunsch wird in der Regel deswegen laut, weil Menschen nicht in Situationen kommen wollen, die sie nicht aushalten können. Mit einer guten Palliativversorgung müssen sie das auch nicht.

Warum ist Ihnen persönlich die Palliativmedizin wichtig?

Es gelingt uns eigentlich fast immer, schlimme körperliche Beschwerden so zu begleiten, dass es für alle Beteiligten erträglich wird. Wir laufen nicht weg, wenn es schlimm wird, wir lassen Menschen in ihrer Not nicht allein. Es ist eine schöne Arbeit: Wir können unendlich viel für Menschen tun und das wiegt das, was wir miterleben müssen, vielfach auf.

Vielen Dank für das Gespräch!

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2017 / S.19