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Abnehmen um jeden Preis: Von der Diät zur bedrohlichen Essstörung

Schlankheitswahn! Gibt es überhaupt Frauen, die sich diesem gesellschaftlichen Druck entziehen können? Die meisten versuchen irgendwann einmal mit Diät, Sport oder anderen Methoden, ihr Gewicht zu senken – ohne im Entferntesten „zu dick“ zu sein. Obwohl überflüssig und unvernünftig, ist ein solches Verhalten natürlich nicht immer krankhaft. Es kann aber zur Krankheit werden.

In Deutschland sind es inzwischen nicht nur junge Frauen, die sich ständig an einem (zu) schlanken Idealbild messen. Über 30% aller Kinder unter 12 Jahren mit ganz normalem Gewicht wären lieber dünner, und fast 20% der Kinder versuchen abzunehmen. Das ergab eine Studie, die die Gewichtssorgen und das Diätverhalten von Dritt- und Viertklässlern untersuchte.1 Wahrscheinlich sind diese Kinder nur in wenigen Fällen krank im Sinne einer tatsächlichen Essstörung. Besorgniserregend sind diese Zahlen dennoch: Schon Kinder messen sich an einem Schönheitsideal, das sie aus Fernsehen und Zeitschriften gewinnen, zunehmend auch aus den sozialen Medien. Dort propagieren Blogs und Influencer, was schön zu sein hat – bezahlt und begleitet von Werbung mit der allgegenwärtigen Botschaft: Wer dick ist, ist faul und hässlich.

Schlanksein – so die Botschaft – bedeutet nicht nur Schönheit, sondern auch Selbstkontrolle und gelungene Selbstoptimierung. Und das sei die Voraussetzung für Wertschätzung, Erfolg, Liebe. Daraus folgt: Bloß nicht dick werden oder besser sogar abnehmen, sonst mag mich keiner. Also Diät oder noch besser – gleich gar nicht essen oder alles Gegessene wieder loswerden.

Magersucht und Ess-Brech-Sucht

Krankhaft wird diese Sorge um das Gewicht, wenn sie nicht nur das Essverhalten, sondern zunehmend das gesamte Denken, Fühlen, Empfinden, Erleben und Verhalten verändert und das ganze Leben zu bestimmen beginnt; wenn sie also – wie es die deutschen Bezeichnungen zum Ausdruck bringen – Suchtcharakter bekommt. Dies ist sowohl bei der Magersucht (Anorexie) als auch bei der Ess-Brech-Sucht (Bulimie) der Fall.

Anorexie und Bulimie sind schwere psychische Erkrankungen, bei denen eine extreme Angst vor dem Zunehmen (Gewichtsphobie) und eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers ein gestörtes Essverhalten zur Folge haben.

Bei Anorexie geht es verkürzt ausgedrückt um Nahrungsverweigerung, die strikt durchgehalten wird.

Wer unter Bulimie leidet, erlebt dagegen häufig Anfälle von Heißhunger, schlingt Unmengen (hoch)kalorischer ansonsten „verbotener“ Lebensmittel in sich hinein und muss sie durch Erbrechen wieder loswerden, um der selbst gesetzten Pflicht, nur nicht zuzunehmen, zu genügen.

Beides hat fatale Auswirkungen. Bei einer Anorexie sind dies vor allem die körperlichen und psychischen Folgen einer Mangel- und Unterernährung. Die sind für Heranwachsende besonders gefährlich: Sie hemmen das Wachstum und beeinträchtigen nicht nur die hormonelle Reifung, sondern auch die Reifung des Gehirns, die ja zur Zeit der Adoleszenz noch nicht abgeschlossen ist.

Eine Anorexie ist lebensbedrohlich. Tatsächlich führt sie bei etwa 5 von 100 Betroffenen innerhalb von 10 Jahren nach Beginn der Erkrankung zum Tod.

Bei einer Bulimie sind vor allem die Folgen des regelmäßigen Erbrechens problematisch. Sie zeigen sich in einem gestörten Salz- und Mineralhaushalt, der in schweren Fällen zu Nierenschäden und Herzrhythmusstörungen führen kann. Außerdem werden durch die Magensäure, die immer mit erbrochen wird, Speiseröhre, Rachen und Zähne geschädigt. Häufig leiden Betroffene zugleich an Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen.

Essstörungen wirken sich auf viele Lebensbereiche nachteilig aus, man spricht von psychosozialen Folgen: Der schulische und berufliche Werdegang kann oft nicht wie geplant fortgesetzt werden, Freundschaften und Beziehungen verlieren ihre Bedeutung, erste sexuelle Erfahrungen werden verpasst, die Entwicklung einer eigenen Identität ist fixiert auf den Körper. Für das Jugendalter wichtige Entwicklungen bleiben aus. Beide Krankheiten nehmen leider häufig einen chronischen Verlauf: Was als Jugendkrankheit beginnt, reicht oft weit ins Erwachsenenleben.

Frauenkrankheiten?

Beide Störungen sind „typisch weiblich“. Tatsächlich sind 9 von 10 aller anorektischen und bulimischen Patienten junge Frauen. Der Erkrankungsgipfel liegt bei Anorexie zwischen 14 und 16 Jahren, bei Bulimie, die oft auf eine Anorexie folgt, zwischen 16 und 24 Jahren.

Der große Unterschied zwischen den Geschlechtern entwickelt sich aber erst mit Beginn der Pubertät. Von einer Essstörung betroffen sind Mädchen und Jungen im Alter von elf Jahren noch fast gleich häufig. Mit Beginn der Pubertät steigt jedoch Zahl der essgestörten und tatsächlich erkrankten Mädchen, während die der Jungen sinkt.

Vom Verdacht zur Diagnose

Um die vielfältigen Folgeschäden gering zu halten und einer Chronifizierung vorzubeugen, ist frühe Hilfe wichtig. Das Problem: Mädchen, die Essanfälle haben und danach erbrechen, tun dies im Verborgenen, weil sie sich dafür entsetzlich schämen. Aber auch magersüchtige Mädchen, werden nur selten um Hilfe bitten. Denn wäre die Hilfe erfolgreich, wäre das Ergebnis ein höheres Gewicht – genau das, was die Betroffene so sehr fürchtet.

Besonders Eltern, Freunde und Freundinnen, Lehrkräfte sowie Ärzte und Ärztinnen müssen also aufmerksam sein und auf Alarmsignale reagieren (siehe Kasten Seite 5).

Besteht der Verdacht einer Essstörung, die der oder die Betreffende nicht selbst oder mithilfe von Familie und Freunden wieder überwinden kann, muss eine genaue Diagnostik folgen. Das kann meist der Hausarzt oder die Hausärztin machen. Die stellen dann Kindern oder Jugendlichen Fragen der Art:3

  • Hast du in letzter Zeit stark abgenommen?
  • Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden?
  • Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst?
  • Machst du dir Sorgen, weil du manchmal mit dem Essen nicht aufhören kannst?
  • Würdest du sagen, dass Essen dein Leben sehr beeinflusst?

Vor allem wenn einiges für bedrohliches Untergewicht oder häufiges Erbrechen spricht, ist eine weitergehende Untersuchung unerlässlich. Dazu gehört zum Beispiel: Blutdruck und Puls, Blutbild, Leberwerte, Urinuntersuchungen.

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Wie geht es weiter?

Der erste Schritt ist immer der schwerste: Betroffene müssen einsehen, dass sie Hilfe brauchen und diese auch annehmen. Eine wesentliche Rolle spielt der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum behandelnden Arzt, zur behandelnden Ärztin. Das kann ein Hausarzt, ein Kinder- und Jugendarzt oder eine Frauenärztin sein.

Im ärztlichen Gespräch wird ausführlich über die Krankheit und deren Risiken informiert (Psychoedukation), und es gibt klare Absprachen darüber, wie es weitergehen soll. Einen Behandlungsplan gemeinsam zu erarbeiten ist für Jugendliche, die ja oft zur Untersuchung „geschickt“ wurden, wichtig, um ihrem Autonomiebedürfnis gerecht zu werden. Die Eltern einzubeziehen ist dennoch sinnvoll, manchmal – vor allem bei Kindern und jüngeren Jugendlichen – notwendig. Die gezielte Behandlung liegt vor allem in den Händen folgender Berufsgruppen: ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.

Beide Erkrankungen, vor allem aber eine Anorexie, erfordern immer eine engmaschige (haus-)ärztliche Begleitung, damit körperliche Risiken und Komplikationen rasch erkannt werden. Auch die Einbeziehung von Sozialarbeitern und Ernährungsberatern kann hilfreich sein. Und ohne Frage ist eine gute Zusammenarbeit aller an der Behandlung Beteiligten unerlässlich.

Das Essen normalisieren, die Psyche behandeln

Bei beiden Essstörungen spielt Psychotherapie die Hauptrolle. In der Wirksamkeit unterscheiden sich einzelne Verfahren und Schulen kaum. Wichtig ist, dass die Therapeuten in der Behandlung von Essstörungen erfahren sind. Erstes Ziel jeder Psychotherapie ist es, das Essverhalten und das Gewicht zu normalisieren. Deshalb geht es anfangs schwerpunktmäßig um damit zusammenhängende Gedanken, Vorstellungen, Wünsche, Fantasien und Ängste. Von Anfang an werden aber auch andere Themen zur Sprache kommen. Ganz oben steht das schwierige Verhältnis zum eigenen Körper, das ganz eng mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und dem (Selbst-)Anspruch, immer perfekt zu sein, zusammenhängt. Andere Problembereiche, die in einer Psychotherapie geklärt werden müssen, sind der Umgang mit den eigenen (oft negativen) Gefühlen, Konflikte in der Familie und unter Gleichaltrigen, die eigene geschlechtliche Identität, mögliche (oder verpasste) erste sexuelle Beziehungen und das „Hineinwachsen“ ins Erwachsenenleben mit seinen Chancen und Risiken.

Eine medikamentöse Behandlung kann überhaupt nur bei einer Bulimie in Betracht gezogen werden. Es gibt Hinweise, dass Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) die Symptome der Bulimie reduzieren können.

In Deutschland ist dafür ausschließlich der Wirkstoff Fluoxetin zugelassen – und dies nur für Patienten über 18 Jahre. Die medikamentöse Therapie muss jedoch immer von einer psychotherapeutischen Behandlung begleitet werden. Kritisch muss angemerkt werden, dass sich eine solche sogenannte Kombinationsbehandlung nicht unbedingt als erfolgreicher erweist als eine rein psychotherapeutische Behandlung.4

Der richtige Ort für die Behandlung

Die Behandlung kann ambulant, stationär oder auch in einer Tagesklinik stattfinden, je nach Schwere der Essstörung und der körperlichen Gefährdung. Oft hängt die Wahl auch von den Therapiemöglichkeiten vor Ort ab. Bei einer sehr schweren Anorexie, wenn leider als Teil und als Folge der Erkrankung häufig jede Einsichtsfähigkeit fehlt, lässt sich manchmal eine Zwangsbehandlung inklusive einer Ernährung mit Magensonde nicht vermeiden – bis der Zustand nicht mehr lebensbedrohlich ist.

Angehörige und Betroffene sollten wissen, dass trotz und während einer ambulanten Psychotherapie auch längere stationäre Aufenthalte notwendig sein können. Bekannt ist außerdem, dass junge Menschen öfters rückfällig werden, wenn sie in ihre Familie zurückkehren. Darum kann es für sie besser sein, in einer therapeutischen Wohngruppe zu leben.

Anorexie und Bulimie sind zwar seltene aber sehr schwere psychische Erkrankungen. Sich zu dick zu fühlen und der Fokus auf ein vermeintliches „Idealgewicht“, ist in der westlichen Welt jedoch ein weitverbreitetes Phänomen. Um angesichts des herrschenden Schlankheits- und Diätendrucks „gesund“ zu bleiben, müssen Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass Anerkennung und Wertschätzung nicht von einer vermeintlich perfekten äußeren Er­scheinung abhängen. Das ist die ­beste Vorbeugung.

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 01/2019 / S.04