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©Taigi/Fotolia

Kontrolliert Alkohol trinken?

Bisher sollen Arzneimittel für Alkoholabhängige dafür sorgen, dass sie nach einem Alkoholentzug nicht rückfällig werden, sondern „trocken“ bleiben. Mit Nalmefen (Selincro®) verfolgt die Firma Lundbeck eine andere Strategie: Das seit September 2014 erhältliche Mittel soll das Verlangen nach Alkohol lediglich drosseln.

Zugelassen ist Nalmefen nur für Vieltrinker, die keine körperlichen Entzugserscheinungen haben und keine sofortige Entgiftung benötigen. Es ist ungewiss, ob das voreilig in der Presse als „erste Anti-Alkoholpille“1 gelobte Nalmefen tatsächlich einen „neuen, sanften Weg aus der Sucht“2 ermöglicht, mit dem „Aufhören … wesentlich leichter“2 wird. Denn in der klinischen Erprobung von Nalmefen wurde die Abstinenz als Therapieziel gar nicht untersucht.3 Und überhaupt ist unklar, welchen Stellenwert es für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit hat, lediglich die Trinkmenge zu verringern.

In den meisten europäischen Ländern gilt Abstinenz als vorrangiges Therapieziel. Alle Medikamente gegen Alkoholismus – auch das neue Nalmefen – darf der Arzt oder die Ärztin nur verordnen, wenn für eine kontinuierliche begleitende psychische und soziale Unterstützung gesorgt wird. Die „Tablette allein“ reicht folglich nicht.

Während Alkoholabhängige die älteren Mittel, die den dauerhaften Alkoholverzicht unterstützen sollen, kontinuierlich einnehmen müssen, wird das neue Nalmefen nur bei Bedarf geschluckt. Das heißt an den Tagen, an denen das Risiko besteht, Alkohol zu trinken.

Der Nutzen von Nalmefen ist bescheiden: In den beiden für die Marktzulassung relevanten Studien verringert es die Zahl der Tage mit hohem Alkoholkonsum von ursprünglich 18 bis 20 pro Monat im Vergleich zu einem Scheinmedikament lediglich zusätzlich um etwa 2 Tage. Die durchschnittlich am Tag getrunkene Alkoholmenge wird nur in einer der beiden Studien geringfügig gesenkt (um etwa ein halbes Glas Wein mehr als unter Scheinmedikament).3

Nalmefen ist schlecht verträglich. Pro 100 Studienteilnehmer haben deshalb bis zu 23 die Studien vorzeitig abgebrochen. Übelkeit, Schwindel, Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen kommen sehr häufig vor – bei mehr als jedem Zehnten. Mit Appetitlosigkeit und Erbrechen sowie Verwirrtheit, Schläfrigkeit, abnehmender Libido u.a. ist häufig zu rechnen.

Wie sich Nalmefen auf eine bereits schwer vorgeschädigte Leber – eine der typischen Komplikationen anhaltenden Alkoholmissbrauchs – auswirkt, ist unbekannt. Menschen mit schwerem Leberschaden dürfen das Mittel deshalb nicht verwenden. Die Neuerung kostet pro Tablette knapp 6 Euro und somit rund 100 Euro pro Monat, wenn in diesem Zeitraum 17 Tabletten benötigt werden.

Nalmefen hat allenfalls eine Nischenfunktion zur Überbrückung, wenn ein Therapieplatz zur Alkoholentwöhnung zeitnah nicht zur Verfügung steht.4 Nur unter dieser Bedingung erstatten die gesetzlichen Krankenkassen Nalmefen drei Monate lang.4 Mehrere Mitglieder des Arzneimittelausschusses der europäischen Zulassungsbehörde EMA hatten gegen die Zulassung von Nalmefen gestimmt. Sie begründeten dies mit den geringen und in klinischen Studien uneinheitlichen Effekten, mit der fraglichen Relevanz der nur mäßigen Verringerung der Trinkmenge für die Gesundheit der Alkoholkranken und nicht zuletzt damit, dass ein Nachweis des tatsächlichen Nutzens des Mittels fehlt: Ob nämlich die Einnahme langfristig akute und chronische Folgeschäden des Alkoholkonsums wie Leberzirrhose, Krebs oder Unfälle verringern kann.3

Wir raten angesichts der offenen Fragen und der dürftigen Nutzenbelege vom schlecht verträglichen Nalmefen ab.3

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– Gute Pillen – Schlechte Pillen 06/2014 / S.04