Zum Inhalt springen
© underdostudios - Fotolia.com

Eine peinliche Antwort auf eine Kleine Anfrage

Politik schützt Patienten nicht vor der Pharmaindustrie

Unter dem Titel „Mögliches Risiko für Patientinnen und Patienten sowie hohe finanzielle Belastungen für die Krankenkassen aufgrund häufiger Verordnung von Xarelto®“ stellte die Bundestagsfraktion Die Linke Ende März eine so genannte Kleine Anfrage an die Bundesregierung, die umfangreich beantwortet wurde.1 Soweit in Ordnung. Die Antwort ist allerdings ein Skandal.

Im Wesentlichen geht es um die Bewertung der Behandlung mit einem der neuen Antikoagulanzien (NOAK), also um Rivaroxaban (Xarelto®), Dabigatran (Pradaxa®) und Apixaban (Eliquis®). Sie werden derzeit beispiellos beworben und sehr erfolgreich in den Arzneimittelmarkt gedrückt. Besonders der scheinbare Vorteil gegenüber dem Standardmedikament Phenprocoumon (Marcumar® und Generika), nämlich dass die Gerinnungsfähigkeit des Blutes nicht kontrolliert werden muss, dient den Marketingstrategen als Argument.

Wie zahlreiche Wissenschaftler und Medien hat auch GPSP darüber ausführlich berichtet und vor dem unkritischen Einsatz der neuen Antikoagulanzien gewarnt. Nach der Meinung pharmaunabhängiger Ärzte ist es ein Fehler, zu behaupten, eine Kontrolle der Gerinnung sei nicht nötig.2 Die neuen Medikamente sind wegen der fehlenden Kontrollmöglichkeit sogar gefährlich, da der Grat zwischen zu starker Hemmung der Gerinnung (= Gefahr von schweren Blutungen) und zu schwacher Hemmung (= keine Wirksamkeit gegen Schlaganfall oder Herzinfarkt) sehr schmal ist. Bei Phenprocoumon wird die Dosierung dagegen anhand von Gerinnungsmessungen optimiert. Patienten können diese Messung sogar zuhause durchführen.

Weiteres Problem der Neuen: Im Gegensatz zu Phenprocoumon stehen bei den neuen Substanzen derzeit keine Gegenmittel (Antidote) zur Verfügung, die im Fall einer schweren Blutung lebensrettend sein können. Und natürlich sind die neuen Präparate sehr teuer: Fünfzehn- bis zwanzigmal mehr als für das Standardpräparat muss der deutsche Versicherte zahlen. Die Mehrausgaben werden demnächst die Milliardengrenze überspringen!

Dies alles wurde in der Anfrage der Linken-Fraktion thematisiert. Die medizinischen Fakten sind gut recherchiert und ausgewogen dargestellt. Ganz anders dagegen die Antwort der Regierung. Sperrige Formulierungen und nichtssagende Worthülsen lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sich der oder die Verfasser mit inhaltlichen Details nicht beschäftigen wollen oder können.

Im Großen und Ganzen versteckt sich die Bundesregierung hinter den Zulassungsentscheidungen der zuständigen Behörden EMA (European Medicines Agency) und BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte). Den Autoren der Regierungsantwort ist dabei durchaus bewusst, dass es keinen Nachweis irgendeiner Überlegenheit der neuen Substanzen gibt: „Die Zulassung der NOAKs bei Vorhofflimmern erfolgte im Vergleich gegen die übliche Standardtherapie mit Vitamin K-Antagonisten; dabei reicht als Zulassungsgrundlage der Nachweis der Nichtunterlegenheit aus; eine Überlegenheit muss für die Zulassung nicht zwingend nachgewiesen werden.“

Und dass die neuen Wirkstoffe nicht nur von notorischen Nörglern, sondern von unabhängigen Fachblättern wie den Mutterzeitschriften von GPSP3,4 und Experten wie denen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft kritisiert werden, wissen die Verfasser der Stellungnahme offensichtlich auch. Es scheint ihnen aber egal zu sein: „Wie bereits angeführt, ist dies eine andauernde wissenschaftliche Diskussion, in welcher in der Fachöffentlichkeit unterschiedliche Positionen vertreten werden. Es handelt sich somit um eine Meinungsäußerung zur Differentialtherapie aus der interessierten Fachwelt. Die geäußerten Positionen und Schlussfolgerungen werden mit Interesse zur Kenntnis genommen.“

Zulassungsbehörden tun sich schwer, einmal getroffene Entscheidungen zu revidieren. So waren es beim blutzuckersenkenden, aber gesundheitsschädlichen Medikament Rosiglitazon nicht etwa die Zulassungsbehörden, die es vom Markt fegten, sondern beharrliche Kritiker aus der medizinischen Fachwelt und auch der gemeinsame Bundesausschuss (GPSP 5/2010, S. 14). Schwer nachzuvollziehen, dass solche Vorgänge nur mit „Interesse zur Kenntnis“ genommen werden, geht es doch um Leib und Leben von Patientinnen und Patienten. Aber das Eingeständnis einer früheren Fehlentscheidung kommt im Selbstverständnis von Zulassungsbehörden offenbar nicht vor.

Und warum gibt sich die Bundes­regierung so gelassen gegenüber dem Verhalten ihrer Behörde?
Den größten wirtschaftlichen Er­folg in der derzeitigen Marke­ting­schlacht, zu der gekaufte Experten,5 unerwünschte Arz­nei­mittel­muster 6 und zurück­ge­hal­tene Daten7 gehören, verbuchen die beiden deutschen Pharma­unternehmen Bayer und Boeh­ringer. Über die Hintergründe kann allenfalls spekuliert werden. Klar ist aber, dass kommerzieller Erfolg häufig medizinischen Fortschritt suggeriert, wo in Wirklichkeit keiner ist. In den USA zumindest schätzt man die Rolle von Boehringer nicht so unschuldig ein: 2014 zahlte der Konzern an Pradaxa®-Geschädigte und an Angehörige von Opfern eine knappe halbe Milliarde Euro Entschädigung.8

Aus Sicht von GPSP sind die Patientinnen und Patienten in Deutschland gut beraten, ihren Arzt oder ihre Ärztin nach dem bewährten und in seiner Wirkung messbaren Mittel Phenprocoumon zu fragen, wenn eine Antikoagulanzien-Behandlung nötig ist. Dabei steht für Patienten die Therapiesicherheit im Vordergrund. Das Einsparpotential ist ein nützlicher Nebeneffekt für die Allgemeinheit.

PDF-Download

– Gute Pillen – Schlechte Pillen 04/2015 / S.25